Zum 140. Geburtstag von Wilhelm Groß
Blumen der Nächstenliebe
Zum Gedenken an den 140. Geburtstag des Bildhauers und Predigers D. Wilhelm Groß am 12. Januar 2023
Er ist ein Mensch, den man nie vergisst.
Das weiß ich aus eigener Erfahrung – denn ich bekam die Chance, ihn persönlich kennenzulernen. Als Schulkind. Der erste Pfarrer im Reisedienst für Jungen- und Schülerarbeit der DDR, Johannes Meisel, und der Neustrelitzer Pastor Gerhard Möwius, mein Vater, organisierten Anfang der 1950er Jahre ein Treffen der Jungen Gemeinde in der Reformsiedlung Eden-Oranienburg, um das Leben und Wirken des Künstlers Wilhelm Groß hautnah zu erfahren. Ich, obwohl eigentlich noch zu klein, durfte ausnahmsweise schon mit. Im Landmannschen Haus, dem ehemaligen Entbindungsheim, in dem Herr Meisel auch wohnte, wurden wir schlicht und einfach untergebracht, ganz wie es dem Edener Lebensstil, sich soweit wie möglich selbst zu versorgen, entspricht.
Und dann ist sie da, die lang ersehnte Stunde – im Atelier von Wilhelm Groß, Marke Eigenbau. Und was für einer! Ich reiße die Augen sperrangelweit auf. Aus Planken alter Spreewaldkähne ist die Werkstätte gezimmert und mit Binsenstroh gedeckt. Nie, früher oder später, bekam ich eine solche Behausung noch jemals zu Gesicht. Darinnen er – Bildhauer, Grafiker, Keramiker, Zeichner, ja sogar Prediger und Dr. der Theologie ehrenhalber seit 70 Jahren, wie ich mit gespitzten Ohren erfahre, ein „Tausendsassa“ der Kunst und des Erzählens. Wie festgewurzelt lausche ich.
Als Halbjude wird er von den Nazis eingeordnet und diskriminiert, der Entarteten Kunst bezichtigt und mit Berufsverbot belegt. Seine Heimat, Pommern, verliert er, was ihn mit den anwesenden Amtsbrüdern, Schlesiern, verbindet. Er übersteht den Ersten und den Zweiten Weltkrieg in konsequentem Widerstand. Wohl braucht er wegen eines Herzleidens nicht Soldat zu werden, jedoch seine künstlerischen Arbeiten bleiben unerwünscht, auch in der Nachkriegszeit und in der DDR. Aufträge erhält er fast nur von der Kirche. Dabei hat er eine große Familie zu ernähren, seine Frau und sechs Kinder. Einen seiner Söhne nimmt ihm der Krieg.
Zu hören, dass er sich im Gegensatz zu Pfarrern, die sich in der Nazi-Zeit als „Deutsche Christen“ organisieren, zunächst im „Pfarrernotbund“ und später in der „Bekennenden Kirche“ heimisch fühlt und sich in Wort und Werk gegen Hass, Mord und Leid stark macht, überfordert mich als „Küken“ der Runde. Erst, als er erzählt, dass er 1945 zum Evangelischen Prediger berufen wird und nach der Befreiung auch im Bereich des Konzentrationslagers Sachsenhausen wirkt und hilft, indem er Heimat- und Obdachlose, unter ihnen ehemalige Häftlinge, beherbergt und beköstigt, begreife ich ein Quäntchen des Unfassbaren. Hab ich als Drei– bis Vierjährige doch selbst flüchten, hungern und irgendwo irgendwie unterkommen müssen.
Sein Atelier, es wird zeitlebens und länger die „Strohkirche“ genannt, ist für mich wie ein großes Abenteuer. Holz, Holz, Holz – und Stein und Gips und Ton! Stämme, glattgewachsen oder verästelt, Bretter, Platten, Stangen all überall! Ein Flaschenzug, Sägen, Beitel. Dosen mit Schwärze. Papier und Pinsel. Jedoch Farben? Farben vermisse ich. Herr Groß winkt mich zu sich heran: „Weißt du, was das ist, woran ich da gerad herumschnitze?“, fragt er und schält mit dem Stecheisen einen Holzspan heraus. „… eine … Blume?“, flüstere ich. Sanft legt er mir seine Hand auf den Kopf. „Ah, und hast du auch eine Idee, wie sie heißt?“ „… Dahlie? Die haben wir im Garten, die Lieblingsblumen meiner Mutti. Im Herbst muss ich wieder ihre Knollen ausbuddeln, damit sie nicht erfrieren. Sie sagt immer, dass Dahlien die Blumen der Nächstenliebe sind. „Wun-der-voll“, stimmt „Meister Wilhelm“, wie seine Frau Frieda ihn nennt, mir zu. „Nimm ihr doch einen Druck davon mit! Ich mach ihn euch fertig. Guck mal hiermit.“ Er zeigt auf die Druckerpresse. „Morgen, bevor ihr heimreist, liegt er bereit.“
Und dann falle ich fast aus allen Wolken! Plötzlich, mit ein paar Handgriffen, verwandelt sich die „Strohkirche“ in einen sakralen Raum, den sie für Gottesdienste der Bekennenden Kirche sogar generell bietet. Wir alle, ob Groß, ob Klein stehen im Kreis und fassen uns an den Händen. Seine ist groß und stark und meine darin so winzig, aber ganz warm und geborgen. Nun stimmen wir aus voller Kehle das Lied der Jungen Gemeinde „Herr, wir stehen Hand in Hand“ an. Es läuft mir heiß und kalt den Rücken hinunter und jetzt, während ich es aufschreibe, geht es mir wieder so. (Heute bin ich sehr betrübt, dass es die „Strohkirche“ weder als Gotteshaus noch als Werkstatt oder Begegnungsstätte weiterhin gibt, sondern aus Kostengründen an privat verkauft ist).
Vater nahm die als „Originalholzschnitt/Handdruck D. Wilh. Groß“ gezeichnete Grafik mit, ließ sie rahmen und schenkte sie Mutter zum Geburtstag. Jahre nach ihrem frühen Tod verzog Vater in die BRD – mitsamt dem Dahlienbild! Wie es mir fehlte! Später, als die väterliche Wohnung aus Altersgründen aufgelöst wurde, wird es meins. Seitdem hängt es in Silber gerahmt an der Wand meines Zimmerchens, am Fußende des Bettes, und immer wenn ich erwache, sind da die Dahlien, die „Blumen der Nächstenliebe“.
So gedenke ich der Eltern und des herzensguten Künstlers, der über die Jahre noch ein Stück näher und in weit größerer Dimension zu mir herangerückt ist – durch seinen „Amos“, sein für mich bedeutendstes Werk, dessen Ursprung bereits in den 30er Jahren liegt. Zunächst aus Weide, abgelöst durch einen Holzschnitt, dann einen Wurzelholzkopf – bevor das endgültige Standbild erschaffen wird, wie es sich in der Jakobikirche Stralsund heute befindet, welche am 6.10.1944 im gleichen Luftangriff wie unser Haus zerstört worden ist.
Die Kirche, wieder erbaut und später zur Kulturkirche umgewidmet, befindet sich knapp 100 Schritte von uns entfernt. Gerade, wie so oft, manchmal auch mit Gästen, komme ich von „drüben“, von ihm, dem Propheten oben in der Turmhalle. Der Kleine Prophet Amos, der älteste aller Propheten, den Wilhelm Groß immer wieder in einem am Wegesrand stehenden Ahornbaum erkannte, welcher eines Tages durch ein Unwetter umstürzte, ist 4,20 Meter hoch. Er hätte ihn nur noch aus dem überflüssigen Holz herausschneiden müssen, sollte sich Wilhelm Groß zu dessen Entstehung einst sinngemäß äußern. Öfter stehe ich vor dem Propheten und versuche, ihn mir in den Baum zurückzudenken und staune, wie sinnreich und praktisch die Sprache der Natur ist, uns auf selbstgemachte Missstände förmlich zu stoßen. Wenn wir nur die Augen öffneten! Amos, der seine Arme gen Himmel reckt – die linke Hand, weil der Mensch Unrecht übt, zur Faust geballt, die rechte mit erhobenem Zeige- und Mittelfinger zum Höchsten strebend, auf Besinnung und Rettung deutend. Die Augen in Seelenschmerz geschlossen und das Haupt beinahe sanft – oder doch deprimiert – geneigt. Genau wie es in der Astgabel des Ahorns angelegt ist – als dicker Auswuchs! So steht er da, als Mahner, Ankläger, Erschütterter von dem, was Menschen sich antun, sogar – ich zucke zusammen – heute, gerade jetzt wieder. Gott will Umkehr und Gerechtigkeit, Wohltätigkeit und Toleranz statt Krieg, klagt Amos ein.
Außer den Grausamkeiten zweier Weltkriege im 20. Jahrhundert und der Vernichtung von mehr als sechs Millionen Menschen durch den Holocaust, teilten die Politiker im Jahre 1949 dann noch Deutschland und Berlin, scheuten nicht Mauern, Stacheldraht, Schießbefehl, Hunde, Verletzte, Tote. Deshalb mahnte der Prophet Amos am gemeinsamen Ost-West-Kirchentag 1951 unter der Losung „Wir sind doch Brüder“ in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle. Eine Zeitlang befand er sich in der Orangerie im Oranienburger Schlosspark, die kriegsbedingt als Notkirche diente sowie während der „Friedenssynode“ in der Friedenskirche zu Berlin-Weißensee auf dem Gelände der Stoecker- und späteren Stephanus-Stiftung, wo F.-W. Krummacher derzeit Pfarrer und Superintendent für Berlin-Land war.
Juli 1955 – es ist so weit! Zur Einweihung des Gemeinderaums „Gustav-Adolf-Saal“ in der Turmhalle von Sankt Jakobi Stralsund, gesponsert durch das Gustav-Adolf-Werk, die Denkmalspflege, den Staat, die Hansestadt Stralsund, die Pommersche Evangelische Landeskirche und Privatpersonen bringt der Initiator der Aktion, Bischof D. F.-W. Krummacher, ein riesiges „Geschenk“ mit – die Amos-Statue des Bildhauers Wilhelm Groß. Hier findet Amos seine Heimstatt, in der er nun bereits 67 Jahre zu besuchen ist – als gigantisches Kunstwerk und Ort der Einkehr und Stille.
Fast siebzig Jahre gingen seit meinem Eden-Besuch als Kind ins Land. Im vergangenen Jahr schickt mir der Himmel eine unvergleichliche Überraschung – ich werde noch einmal dorthin eingeladen. Im Mai 2022 wird in der Oranienburger Nicolai-Kirche die Ausstellung der Werke des zeitweise auch in Eden lebenden Peter Krentler zu dessen 101. Geburtstag eröffnet. Tatsächlich ist er 1941 mit zwanzig Jahren gefallen! Ich bin im Besitz eines seiner Werke, das ich dort vorstellen darf.
Am Tag zuvor erkunden mein Mann und ich in Ruhe schon einmal jenes Gotteshaus und entdecken im Vorfeld und fast allein die dort befindlichen Werke von Wilhelm Groß. Eines haben sie gemeinsam: Sie sind Verkündigung und schreien nach Menschlichkeit. Ich bin betroffen, nein schockiert vom „Erstarrten Michael“, der wegen des Hasses, der Gier, des Leids und der Brutalität in der Welt Augen und Ohren verschließt, sein versteinertes Gesicht in beide Hände gräbt und dessen Flügel regungslos in den Raum ragen. Mit kennerischem Blick als Bildhauer entdeckt mein Mann an ihm eine versteckte schadhafte Stelle, die kurzfristig behoben werden kann. Auch die Gethsemane-Gruppe – sie wurde, von den Nazis verfemt, über Jahre nach Holland ausgelagert – die beiden schlafenden Jünger und der zu seinem Vater im Himmel flehende Christus, bevor er verraten und gekreuzigt wird – und schließlich der Kruzifixus selbst bringen mein Inneres in Aufruhr. Und das verkündigt Wilhelm Groß auch zeitlebens. Missachten wir es nicht!
Etwas ganz Besonderes vor unserer Abreise erlebe ich am Nachmittag noch. Wir werden in die kleine ständige Ausstellung in Eden geführt, in der auch die von Wilhelm Groß geschaffene Büste des erblindeten J. S. Bach beeindruckt. Ich bin fassungslos, denn mein Blick fällt ohne Umschweife sofort auf die „Dahlien“. Mir fehlen die Worte – die Blüten sind mit zartroter Pastellfarbe belegt! „Wun-der-voll“, nehme ich da im Stillen den Künstler wahr. Welcher Widerspruch zu meinem ersten Besuch einst in der „Strohkirche“, wo ich nach Farben vergeblich suchte. Und obschon ‚meine‘ Dahlien zu Haus nicht bunt an der Wand hängen, sehe ich sie jetzt in meiner Fantasie je nach Laune auch in sanftem Rot – neben, über, unter oder sogar auf den Blumen meines Holzschnittes aus den Händen des Künstlers damals in meinen Kindertagen.
Wilhelm Groß ist ein begnadeter und gesegneter Künstler und Prediger, auch heute noch, an seinem 140. Geburtstag – und hoffentlich weit darüber hinaus. Durch seine, einigen unbequeme, aufwühlende Kunst wird mein und das Leben vieler Menschen berührt und bereichert, ruft sie doch zu Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und Nächstenliebe auf.
Friedrun Jaeger, Stralsund
Fotos: privat (1) Fam. Groß, (2-4) Hans-Peter Jaeger