Die Anfänge Edens – Teil 5 Erinnerungen von Rudolf Preißecker
Rudolf Preißecker erinnert sich nicht nur an der Tage Müh‘ und das sattmachende Essen, sondern berichtet auch, wie ihn und seine Kollegen der Gesang einer Nachtigall verzauberte und wie er es genoss, dass es die Möglichkeit gab, sich vom Staub der Woche mit einem Samstagsabendbad zu reinigen. Und er benennt Menschen, die ihm in dieser Zeit begegneten und ihn beeindruckten.
Viel Freude beim Lesen und Erfahren wünscht euch Christiane
(Bitte beachtet, dass der folgende Text vor über 90 Jahren geschrieben wurde und auch die damalige Rechtschreibung eine andere als heute war.)
Rudolf Preißecker, Wien
(EM Nr. 4, April 1933, S. 74-77)
„Was war das für ein schöner Tag,
erlebt auf weiter, sonniger Heide!
Die Lerche stieg im farbenschlichten Vogelkleide,
hinauf mit kräftigem Trillerschlag.“
Eden, 1899 R. Preißecker
Wenn ich den Zeiger meiner Lebensuhr auf dem Zifferblatt der Vergangenheit zurückstelle und mir dabei die vielen, mit meinem Aufenthalt in Eden verknüpften Erinnerungen ins Gedächtnis zurückrufe, dann rollen sich im Buche der Erinnerung nicht nur zahlreiche, sondern auch inhaltsschöne Blätter auf:
Und ich sehe, trotzdem volle 34 Jahre dazwischen liegen, Jung=Eden im sechsten Jahre seiner Entwicklung deutlich vor mir, damals schon reichlich bepflanzt. Auch das Glockenzeichen, das frühmorgens schon zur Arbeit rief, tönt wieder an mein Ohr, als sollte ich, wie damals, rasch zum Spaten greifen und pünktlich am Sammelplatz vor dem Genossenschaftshause erscheinen. Meistens ging es von dort aus nach „Neu=Holland“, wo schon viel Schwerarbeit geleistet worden war, weil durch Aufschüttung des ausgehobenen Bodens die Ausführung von “Hügel=Pflanzungen“ möglich gemacht werden mußte. Dort wurden große Massen von Straßenkehricht aus Berlin ausgebreitet, den die braven „Braunen im Brustgeschirr“, gelenkt von Seeger, vom Kanal nach Eden brachten. Der neben seinen Pferden schreitende, gute Mensch ließ die Tiere oft rasten; tief drückten sich die Räder in den weichen Heideboden ein.
Bei der Arbeit auf Neu=Holland gab es einmal einen feinen Goldfund. – Ein Zehnmarkstück glitzerte dem glücklichen Finder entgegen. Wohl weiß ich heute nicht mehr, von wem es entdeckt war. Aber das Erstaunen war groß. Kaum wird sich je einmal wieder so eine Neu=Holland=Überraschung wiederholen. –
Doch wieder zum Faden der Arbeits=Schilderung. Während die eine Gruppe nach dem weit draußen liegenden Neu=Holland abgegangen ist, eilt Ziesche wie immer, in gewohnter Art den Spaten unter dem Arm, mit Merschank, Hanker, Witte, Haupt u.a. zu einer anderen Arbeitsstätte. –
Die Leistungen der ersten „Edener Pioniere“ waren derart bedeutend, daß sie manchem nach Eden gekommenen Gast oder Gartenbaulaien nicht entgangen sind. Ich erinnere mich noch eines in der Pension von Frl. Dorsch einlogierten Landesgerichtsrates aus Graz, der vom Fenster herab Willkommen noch bei Frost und Schnee den Baumsteifen der Straßen entlang stundenlang beim Rigolen beobachtet hatte und über dessen Ausdauer sich nicht wenig gewundert hat. Er sprach mit mir, dem Landsmann, oft über diese Beobachtung, vom Pensionshaus seinen Blick über das junge Neuland sendend. Und er meinte: “Man muß staunen, was bei dieser einfachen Kost in Eden geleistet wird.“ – Auch von mir nicht unbeachtet, hatte damals schon der Arbeitsernst willenszäher Menschen, die in Eden eine Heimat gefunden hatten, im beispielgebenden Licht erfolgverbürgende Pionierausdauer auswirken lassen.
Unvergesslich bleibt mir eine wunderbare, herrliche Nacht in Eden. Spät mit Schirrmeister, nach einem wie gewöhnlich stark besuchten Vortrag in Berlin, wieder in Eden angelangt, hörte ich zum erstenmal in meinen Leben einer Nachtigall schmelzendes Liebeswerben. Gebannt von der Macht des herrlichen Gesanges blieben nicht nur wir, ich mit Schirrmeister, aufhorchend vor dem Genossenschaftshaus lange, lange stehen, sondern mit uns auch noch Lovis, Forke, Lehrer Lehmann, Schünemann u.a., auf deren Namen ich mich nicht mehr genau erinnern kann. Sie alle lockte das kleine Wesen ins Freie, zur späten Nachtstunde. Ja, das war eine stimmungsherrliche Nacht, in der ich das Gefühl hatte, als sollte ich auch den anderen leise zuraunen:
„Laßt uns lauschen, laßt uns beten!
Süßes, wunderbares Flöten,
tönt aus kleiner Vogelkehle
in der Mondnacht Silberschein,
märchenhaft, empfindungsrein,
bis ins tiefste unserer Seele.“
Die Worte blieben unausgesprochen. Besser so. Was bedeuten schließlich Worte, wenn uns Gott den ganzen Zauber einer Mondnacht empfinden läßt.
Sobald vom Genossenschaftshaus, trotz beträchtlichen Entferntseins für den einzeln oder in Gruppen auf der Scholle arbeitenden Menschen durch den anschlagenden Glockenschlegel deutlich hörbar, die Mittagsstunde angezeigt war, die sich übrigens schon vom knurrenden Magen her bemerkbar machte, wurde die Strecke zu den einzelnen Wohnbuden oder zum Genossenschaftshaus nicht mit leichten, anmutigen Schritten zurückgelegt. Man versuchte aber, obgleich man in sehr klobigen, grob geschnitzten „Holländer=Holzschuhen“ steckte, im Sandboden tapfer weiter stampfend, die Entfernung so rasch wie nur möglich zu überwinden.
Im endlich erreichten Genossenschaftsgebäude verrieten schon bald nach dem Eintreten gargekochter „Wirsing“ und „Karotten“, heiße „Kartoffelpuffer“ oder irgendein warmes „Mus“ den eßlustgesegneten Pionieren von damals ungefähr die sehr verlockende oder weniger verlockende „Zusammenstellung“ des Mittagsmahles. Sattessen können, war jedoch immer die Parole in Lovis gut geführtem Küchenbereich, und ich kann nur bestätigen, daß man für das wenige Geld seinen Teller voll bekam. Selbst die einfachsten Speisen waren schmackhaft zubereitet, außerdem aber mit Benützung eines einladend reinen Gedecks auf dem langen Tisch in dem sonst wohl noch in recht bescheidener Art für Vorträge und Versammlungen, für Lese- und Musikabende dienenden Saal so aufgetragen, daß man sich im wohltuenden Zusammenwirken von Behagen und Befriedigtsein immer gern zu Tisch setzte. Soviel ich mich noch erinnere, wurde später in Lovis‘ Wohnhaus gespeist.
Das Zweitwichtigste war für den mit Erde und Dungkalk, mit Holzasche und Torfmull in sehr intimem Verhältnis stehenden Arbeitsmenschen die erfreuliche Einführung, vielmehr die durch den Genossen Lovis gebotene Gelegenheit, daß man sich Sonnabends gründlich reinigen konnte. Die für diesen Zweck errichtete „Badeanstalt“ bestand aus einer Badewanne und einem Wasser wärmenden Dauerbrandofen.
Das billige Bad am Samstag Abend war für den Körper des müde gearbeiteten und reinigungsbedürftigen Menschen von gleicher Bedeutung wie für das Lachbedürfnis der Kinder das bekannte, lustige „Bad am Samstagabend“, ausgedacht und mit Bildern in Szene gesetzt von dem unsterblichen Künstler und Kinderseelenforscher Wilhelm Busch. Badewanne und Waschkessel haben im Zeichen primitivster Anfänge eine prächtige Rolle gespielt.
Herzlichst lachen muß man heute über die bodenlose Kühnheit, mit der die allerersten „Edener Pioniere“, so ihnen doch nur ein geringer Heideboden gegeben war, gewagt haben, das Kind ihrer Landeroberungsträume mit dem hochklingenden Namen „Eden“ aus der Taufe zu heben. Was man aber im guten Glauben auf den Erfolg unternommen hatte, wurde zur Kraftquelle eines arbeitsreichen Lebens.
Wenn ich noch an all die vielen geistigen Anregungen denke, die zumeist im Saal des Genossenschaftshauses wie auch sonst bei dieser oder jener gastfreundschaftlichen „Edener Familie“ gegeben wurden, und dabei auch der aus Meinungsverschiedenheit und besonderem Standpunkt entsprungen, oft bis über Mitternacht geführten „Redeschlachten“ nicht vergesse, so reiht sich Gehörtes und Geschautes, Empfundenes und Empfangenes wie wertvoller Perlen am langen Faden des Sichwiedererinnerns knapp aneinander. Eine wunderbare Erinnerungsperle ist, daß ich im Saal des Genossenschaftsgebäudes zum erstenmal den Wege bahnenden Bodenreformer Damaschke so ganz in der Kraftauslösung seines innig mit „Allmutter Erde“ verbundenen Idealismus sprechen hörte und schätzen gelernt habe.
Wenn ich in den großen, wiederbringungskräftigen Spiegel der gleichsam wie in einem schweren, goldenen Rahmen gefaßten Erinnerungen blicke, dann sehe ich eine ganze Kette von Menschen gegenwartslebendig vor mir: Krecke, den leider körperlich etwas benachteiligten, aber gedankenscharfen, tief verinnerlichten, sozial empfindenden „Förderer Edens“, so auch Schirrmeister, den nicht nur redebegabten, sondern auch werbegewandten Mitarbeiter im Dienste wertvoller Anwerbung erfolgreich wirkend, Eles, das Hörrohr benützend, teilnahmsvoll mit ganzem Ernst neben den anderen Genossen sitzend, dessen Verkehr mit den Mensch infolge seiner Schwerhörigkeit leider sehr beeinträchtigt war. Dienstpflichtbewußt hat auch Eles trotz seines Gehörleidens mit großer Ausdauer bei den verschiedenen Sitzungen mitgewirkt. Das ist mir noch deutlich in Erinnerung.
Wiederholtes Zurückerinnern läßt mich trotz dem Schleier, der sich manchmal über das Vergangene legt, wieder eines Menschen entsinnen, mit dem ich im genossenschaftlichen Betrieb Edens zusammen tätig war. So fällt mir eben ein, daß ich einmal in der schon damals im Anfangsstadium befindlichen „Baumschule“ mit Hanker damit beschäftigt war, von Obstbuschbäumchen, die für den Versand bestimmt waren, die schon stark mit Reif bedeckten Blätter abzusteifen, was allerdings kein Vergnügen war. Kein Wunder, wenn wir uns manchmal die Hände über die Achseln schlugen, damit wir in unseren Fingerspitzen etwas wohltuende, rieselnde Wärme zu spüren bekamen. –
Ich war zu einer Zeit in Eden, da man schon Jackisch erwartete, der bisher nur hin und wieder gekommen war, um bei den Hauptversammlungen sprechen zu können. Mit Jackisch, dem Lebensreformer und Genossenschaftstechniker in einer Person, setzte neues Hoffen und Wirken ein. Sein ehrliches und zielklares Schaffen war gleich mit Beginn seiner genossenschaftlichen Tätigkeit von großer Bedeutung. Er hat mit seinen Getreuen „Eden“ zu dem gemacht, was es heute unleugbar ist: eine kleine Kultur-Insel im sturmgepeitschten Meer des rastlosen Zeitgeschehens.