Eden in den Medien



“Kohlrabi-Apostel” heißt die Folge des ARD-Podcast “Heute minus hundert” https://www.ardaudiothek.de/episode/heute-minus-100/april-1923-kohlrabi-apostel/rbb24-inforadio/12550757/


 


Die ersten Bewohner hatten kein Problem mit ihrem Body-Mass-Index

05.10.2023 11:42:37

Von Claudia Becker

Das Paradies liegt gleich neben der Hauptstraße Eden. Wer zum ersten Mal ahnungslos durch Oranienburg fährt und en passant den elysischen Namen auf der Tafel liest, mag sich wundern. Für Rainer Gödde beginnt hinter dem Schild der schönste Ort, den er sich zum Leben vorstellen kann.

Der 76-Jährige ist in Eden geboren und aufgewachsen. In jener Obstbaukolonie, die 1893 von ein paar Idealisten als Gegenentwurf zum Großstadtleben gegründet wurde. Gemeinschaftlich bewirtschafteter Boden, fernab von Straßenlärm und Anonymität der Mietskasernen. Ein Leben in Einklang, mit den Menschen, der Natur, mit sich selbst. Die Frauen trugen “Reformkleider” ohne überflüssige Unterröcke und Korsetts, die ihre Bewegungsfreiheit einschränkten. In Eden ging es auch um Selbstentfaltung. Eines aber war neben Alkohol und Tabak strikt verboten: der Verzehr von Fleisch.

Die als “Vegetarische Obstbau-Kolonie Eden e.G.m.b.H.” ins Leben gerufene Gemeinschaft, die sich auf 125 Hektar erstreckt und heute rund 1600 Bewohner hat, war die erste Vegetarier-Siedlung Deutschlands. Rainer Gödde kennt sich wie kein anderer mit der Kolonie und ihren Anfängen aus. In dem kleinen Eden-Museum, das er betreut, hängt sogar das Foto des vegetarischen Speisehauses “Ceres” in Berlin-Moabit, in dem die 18 Pioniere die Gründungsurkunde unterzeichnet haben. Den Namen soll die Frau des ersten Geschäftsführers Bruno Wilhelmi in der Nacht zuvor erträumt haben. Plötzlich aus dem Schlaf gerissen, habe sie ihren Mann geweckt: “Jetzt weiß ich, wie unsere Siedlung heißen soll: Eden! Wir wollen doch ein kleines Paradies schaffen!”

Der Zwang zum Fleischverzicht war allerdings nur für einen begrenzten Teil der Großstadtmüden eine paradiesische Vorstellung. “Der Grundsatz, ausschließlich Vegetariern den Zuzug zu genehmigen, schreckte ab”, sagt Gödde. Als schon ein Jahr nach der Gründung beschlossen wurde, dass auch Nicht-Vegetarier sich an dem Siedlungsprojekt beteiligen dürfen, nahm die Zahl der Siedler deutlich zu. 1898 waren schließlich 80 “Heimstätten” verpachtet, auf denen ebenso schlichte wie malerische Häuser errichtet wurden. Daneben entstanden Gemeinschaftsgebäude wie Schule, Gasthaus und Produktionsstätte für die Herstellung von Säften, Marmelade und anderen rein pflanzlichen Produkten. Denn auch wenn der Vegetarismus nicht mehr verpflichtend war, so prägte er die Gemeinschaft ganz wesentlich. Ziegen, Schafe und Hühner waren als Milch- und Eierlieferanten erlaubt. Schweine und Kaninchen hatten hier nichts zu suchen. “Auch Tauben nicht”, sagt Gödde, “sie sind Saaträuber.”

In Eden, das auch heute noch als Genossenschaft existiert, liegen die Wurzeln einer rein pflanzlichen Ernährungsweise, für deren Vorzüge seit 1977 alljährlich am 1. Oktober am Weltvegetariertag geworben wird. Tatsächlich ist der Vegetarismus längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Laut “Ernährungsreport” des Bundesministeriums für Landwirtschaft haben 2021 rund zehn Prozent der Bundesbürger kein Fleisch gegessen. Seit 1983 hat sich die Zahl der Vegetarier in Deutschland verfünfzehnfacht. Rund 1,5 Millionen Frauen und Männer bezeichnen sich als Veganer und verzichten auf alle tierischen Produkte wie Milch und Eier. Die Gründe für eine vegetarische Ernährung sind vielfältig. Umweltpolitische Aspekte wie die Ablehnung von Massentierhaltung oder des übermäßigen Wasserverbrauchs für die Fleischproduktion spielen ebenso eine Rolle wie gesundheitliche Bedenken. Studien bestätigen, dass Menschen, die sich fleischfrei ernähren und mit einer ausgewogenen pflanzlichen Ernährung mögliche Mängel ausgleichen, nicht nur niedrigere Blutdruck- und Blutfettwerte haben, sondern auch ein gesünderes Körpergewicht.

Die ersten Eden-Siedler hatten kein Problem mit ihrem Body-Mass-IndexDie Bilder in der Ausstellung zeigen zähe Männer und Frauen bei der Gartenarbeit. Zunächst aber musste der sandige Boden fruchtbar gemacht werden. Dafür ließen sie sich Berliner Straßenkehricht liefern. Die darin enthaltenen Pferdeäpfel waren der beste Dünger. Es lohnte sich. Bis 1900 wurden in der Siedlung 15.000 Obstbäume, 50.000 Beerensträucher, 3000 Haselnusssträucher, 200.000 Erdbeerpflanzen und 20.000 Rhabarberstauden gezählt.

1908 feierte die Kolonie eine Sensation. “Gesunde Kraft”, eine vegetarische Bratenmasse, die der dort ansässige Fritz Kiel erfunden hatte, kam auf den Markt. Das Trockenpulver aus Bohnen- und Linsenmehl musste man aufquellen lassen. Anschließend kam es in eine Form. Fertig war der Veggie-Braten. Wie er schmeckt, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Zumindest fand es guten Absatz. Laut Gödde handelte es sich um den “ersten brauchbaren Fleischersatz.” Es war nur eines von vielen vegetarischen Produkten, die hier entstanden und mit denen deutschlandweit die 1900 entstandenen Reformhäuser beliefert wurden. Und noch ein Produkt wurde hier erfunden: die Eden-Margarine. Sie war das erste rein pflanzliche Streichfett. Angeblich stand sie auch beim Vegetarier Adolf Hitler auf dem Tisch. Ein Gerücht? Rainer Gödde kann das nicht bestätigen. “Wenn es so gewesen wäre, würde es die Margarine aber nicht schlechter machen”, sagt er.

Dass eine fleischlose Ernährung den Menschen nicht automatisch zu einem besseren macht, das zeigt nicht nur der Blick auf Hitlers Essgewohnheiten, der im Sinne der “körperlichen und rassischen Reinheit” zudem ein entschiedener Nichtraucher war. Auch in Eden ging die Tierliebe nicht automatisch mit einer allumfassenden Menschenfreundlichkeit einher. Selbst auf dem “8. Internationalen Vegetarierkongreß”, zu dem sich 1932 Lebensreformer aus aller Welt in Eden versammelten, ging es nicht nur friedlich zu, sondern es wurde scharf über den wahren Vegetarismus debattiert. Es gab zudem so manchen Edener, der aus seiner völkischen Haltung kein Geheimnis machte. Gustav Simons zum Beispiel, der Erfinder des magen- und darmfreundlichen “Simonsbrotes”. Er war Mitglied im “Orden des Neuen Tempels”, dem nur blauäugige blonde Männer beitreten durften, die sich zur “Reinzucht” verpflichteten. Oder der Pianist Karl Klindworth. Dessen Adoptivtochter Winifred Williams lebte ebenfalls in Eden. Später heiratete die glühende Hitler-Verehrerin Richard Wagners Sohn Siegfried und wurde nach dessen Tod zur Bayreuther Festspielleiterin. Richard Wagner selbst propagierte in seiner 1880 veröffentlichten Schrift: “Religion und Kunst” eine “neue vegetarische Herrenrasse”.

Rainer Gödde sind die völkischen Tendenzen mancher Lebensreformer bewusst. Eden deshalb generell in die rechtsextreme Ecke zu stellen, hält er für unangebracht. Seine eigene Großmutter, die Schauspielerin Anna Rubner, die bis zu ihrem Tod 1968 die Edener Theatertruppe geleitet hat, war Kommunistin. “Politisch gab es hier alles, von ganz links bis ganz rechts”, sagt er. “Erstaunlicherweise hat man sich trotzdem vertragen. Ich habe keinen Beleg für politische Denunziation gefunden.” Rainer Gödde ist übrigens kein Vegetarier. Er ernähre sich aber fleischarm. Fragt man ihn nach den Eden-Idealen, die ihm heute wichtig sind, antwortet er prompt: “Wenigstens einen Teil der Lebensmittel selbst und umweltfreundlich in seinem Garten zu produzieren.” Und das Miteinander, für das bis heute gelte. “Man muss nicht einer Meinung sein und geht trotzdem anständig miteinander um.”